Schauspiel und Regie

Schauspielmethodik: Vom Text zur Verkörperung

Jede Methode ist ein strukturierter Weg, etwas Bestimmtes zu tun. Damit ist sie abhängig von der Auffassung, was denn dieses Bestimmte ist. Es mag vielleicht nicht erstaunen, dass darüber, was Schauspielen ist, kein Konsens herrscht. Hier existieren verschiedene Deutungen nebeneinander, die verschiedene Blickwinkel einnehmen und zuweilen aus unterschiedlichen Epochen zu stammen scheinen.

Was ist Schauspielen?

Ich war Mitte der 90er Jahre auf einem Symposium zum Thema der Künste in München eingeladen. Es waren damals ganz junge Vertreter der verschiedenen Kunstsparten als Diskussionsteilnehmer vor Publikum aufgefordert, ihre Perspektiven darzulegen und miteinander ins Gespräch zu kommen. Dort verwendete ein Komponist für den Bereich des Theaters, den ich vertrat, den Ausdruck „sekundäre Kunst“. Damit beabsichtigte er in diesem Moment nicht einmal eine explizite Abwertung der Theaterkunst. Er wollte lediglich zum Ausdruck bringen, dass Schauspiel und Regie schon auf der Grundlage eines dramatischen Textes arbeiten. Dass dieser also das „primäre“ Kunstwerk sei, dessen sich die Theaterkünstler bedienen, oder vielmehr: dem sie dienen, indem sie ihm zu Sicht- und Hörbarkeit verhelfen. – Schauspielen als Versinnlichung von Text, das war sein Gedanke.

Dass der Aufbruch in die Moderne, die Theatertheorie und viele Schauspielmethoden des 20. Jahrhunderts, das Theater vom „Joch der Literatur“, wie Georg Fuchs es formulierte, zu befreien suchten, scheint noch immer nicht etabliert zu sein. Von Antonin Artauds Kritik eines „Theaters der Worte“ – keine Spur. Kein Konsens, bis heute nicht, das Verhältnis von Theater und Text betreffend.

In meiner Funktion als Schauspieldozentin einer Theater- und Filmakademie begegnet mir ein weiteres, damit zusammenhängendes, Missverständnis des Wesens von Schauspielkunst. Der Schauspieler, so denken viele meiner Studierenden (zunächst), ist jemand, dem es gelingt, Emotionen zum Text zu entwickeln und diese dann auf der Bühne zum Ausdruck zu bringen. In dieser Denkweise wird also eine Stufe zwischen Text und Verkörperung „eingeschaltet“: die emotionale Ebene. Diese sei nun Gegenstand des Schauspiels. Die Emotion selbst ist jedoch weiterhin nur die (unabdingbare) Begleiterscheinung eines vom Schauspieler „erlebten“ Textes.

Im Folgenden möchte ich eine Schauspielmethode vorstellen, die dem zeitlich vorausliegenden Text eine andere Funktion für den Spielvorgang zuweist.

Das Wesen des Schauspiels ist die Handlung

Schauspielen bedeutet nicht, Emotionen zum Ausdruck zu bringen. Emotionen (oder auch Gefühle) sind ein Wie, eine Eigenschaft, und das Was dieses Wie ist die Handlung oder Aktion. Diese wird im Schauspiel getan, und zwar so, als ob sie real wäre. Das Als-Ob ist ein interessantes Phänomen und bedarf einmal einer eigenen Betrachtung. Diese müsste dann aber eher philosophischer (ästhetischer), als psychologischer Natur sein. Denn das Spannende am Als-Ob ist die ontologische Frage nach dem Seinsstatus dieser Realität, auch im Hinblick auf den von Fiktion überhaupt.

Hier kann es aber genügen zu sagen, dass nicht der Gefühls- und Emotionsbereich den Kern dessen ausmacht, was Schauspiel ist, sondern der Bereich des Handelns. So, wie für einen Musiker der Ton oder für einen Bildhauer das Holz oder der Stein das für ihre Kunst grundlegende Material ist, so ist es die menschliche Handlung für das Schauspielen.

Wäre es wirklich der Text, der das Material des Spielens bildet, dann hätten solche Meinungen Recht, die die Schauspielkunst als „sekundäre“ Kunst bezeichnen. Denn dann hätte diese Kunst selbst eine andere Kunstform als Ausgangsbasis und Grundlage: die Kunst des Dramas oder sogar der Wortkunst allgemein. Diese wäre dann auch die Bedingung ihrer Existenz. So ist aber eben gerade nicht.

Die Handlung ist natürlich von Emotionen geprägt. Diese begleiten und motivieren sie. Und so wie es kein Material ohne Eigenschaften gibt, so gibt es auch keine Handlung ohne Emotion. Wichtig ist es jedoch die Handlung als deren Träger zu verstehen.

Vom Text zur Handlung: Textanalyse

Fakt ist aber, dass viele Schauspiel-Arbeiten zunächst einen Text als vorliegendes Material haben. Nun müsste man vielleicht richtiger sagen: als „vorrausliegendes Material“, denn wenn ein dramatisches Werk geprobt wird und zur Aufführung kommen soll, dann ist der Text das zeitlich Erste, dem der Schauspieler begegnet. Da aber dieser Text – wie gerade gesagt – nicht das Material des Spielvorgangs darstellt, fehlt dem Schauspieler zu Beginn der Arbeit das Entscheidenste: die Handlung.

Die Schauspielkunst muss sich ihr Material erst selbst erschaffen. Selbst und gerade dann insbesondere, wenn ihr ein dramatischer Text vorliegt.

Der erste Schritt der schauspielerischen Arbeit besteht daher im Finden und Erfinden der Handlung im und aus dem Text. Was von beiden es wird, es letztendlich ist, ein Finden oder ein Erfinden, das liegt einerseits am subjektiven Erleben der daran beteiligten Künstler; andererseits aber ist auch das eine ungemein spannende (natürlich wieder ästhetische) Frage, ob die Handlung im Text steckt und „nur“ herausgearbeitet, oder vielleicht doch „anlässlich“ des Textes erfunden wird. Auch dazu werde ich einmal eigens etwas schreiben …

Handlungs- und Bedeutungsanalyse

Der erste methodische Schritt im Schauspielen besteht also darin, sich die Handlung als Material der Darstellung zu erarbeiten. Ich nenne diesen Arbeitsvorgang (nach der Methode meines Vaters, David Esrig): Handlungsanalyse des Textes. Der Begriff „Analyse“ übrigens weist schon darauf hin, dass es sich hierbei eher um ein Finden des Handlung, als um deren Erfinden geht.

Der Handlungsanalyse geht jedoch eine andere Analyse voraus, die Bedeutungsanalyse. Diese wird oft von den Schauspielschülern zunächst missverstanden, weil sie schuldeformiert sind (wie auch ich und jeder von uns es vermutlich ist). Sie nimmt nämlich eine komplett andere Richtung als Analysen in Bildungseinrichtungen. Weil sie ein anderes Ziel im Blick hat. Die schauspielmethodische Bedeutungsanalyse versucht, hinter der scheinbaren Selbstverständlichkeit von Worten und Sätzen, das Seltsame, Mysteriöse, Eigenartige zu sehen und dieses als solches zu verstehen (ohne es also weg zu deuten). Die Schwierigkeit besteht daher darin, den Blick umzukehren. Das, was klar erscheint, nochmals genau zu prüfen, um seine eigene, besondere „Unklarheit“ zu entdecken.

Zum Beispiel der Satz von Hamlet: „Sein oder Nicht-Sein, das ist hier die Frage, …“ Die Bedeutungsanalyse für Schauspieler stellt sich das Problem, warum es nicht „Sterben“ oder „Tod“ heißt. Was ist am Wort „Nicht-Sein“ anders als bei den anderen Möglichkeiten, was anderes ist damit gesagt? Und dann „hier“: ist das ein räumlicher Begriff oder doch ein zeitlicher? Warum dann „hier“ und nicht „jetzt“? Wenn die Worte Shakespeares die Worte des Darstellers werden sollen, dann müssen diese Fragen entschlüsselt werden.

Die Bedeutungsanalyse im Schauspiel geht also einen umgekehrten Weg. Sie sucht den Panzer des (angeblichen) Verstandenhabens zu perforieren. So, dass wieder das Unverstandene sichtbar wird und dann neu verstanden werden kann.

Zurück zur Handlungsanalyse. Diese vollzieht sich dadurch, dass wir Sätze (oder auch Satzteile) bündeln, so dass sie sich einer Handlung, einer Strategie des Handelns, zuordnen lassen. Diese Bündel heißen „Handlungseinheiten“ und bezeichnen eine bestimmte Maßnahme, durch die die Figur ihre Absicht auszuführen versucht.

Was heißt „Handlung“?

Um das besser zu verstehen, muss zunächst geklärt werden, was überhaupt eine Handlung ist. Unter „Handlung“ verstehe ich den Versuch einer Figur, die Situation, in der sie (ihrer Meinung nach) steckt, entsprechend ihrer Absicht zu verändern.

Im Paradies handelt niemand, denn die Situation wird als perfekt erlebt. Der Motor einer Handlung ist also ein spezifischer Konflikt, und zwar der Widerspruch zwischen der bewerteten Situation und der Grundeinstellung der Figur, die ein ihr gemäßes Ideal kennt. Es gibt (zumindest im Bereich des Handelns) keine „objektive“ Situation, maßgeblich ist, wie die Figur die Situation bewertet. Ist diese Bewertung nicht in Übereinstimmung mit dem, wie sich die Figur im Verhältnis zur Welt und zu anderen Menschen sieht, entspricht diese also nicht ihrer Grundeinstellung, so entsteht aus dieser Diskrepanz die Absicht, die Situation so zu verändern, dass sie dem eigenen Ideal entspricht.

Das ist die Stunde des Handelns. Eine Handlung wird von einer Absicht geleitet, die aus der Nichtübereinstimmung von erlebter Situation und eigener Weltsicht hervorgeht. Da ein Mensch aber in seinem Handeln auf äußere und innere Widerstände stößt, löst nicht schon ein einfaches Tun den Konflikt auf. Vielmehr: eine Handlung vollzieht sich über verschiedene (meist unbewusste) Strategien, und zwar so lange, bis sie ihr Ziel erreicht oder die Figur das Ziel zugunsten eines anderen Zieles aufgibt.

Zum Beispiel: Ich möchte mir von jemandem Geld leihen (weil ich glaube, dass ich es brauche und finde, dass ich zu wenig davon habe). Zunächst könnte ich denjenigen darum bitten (1. Handlungseinheit). Wenn er das verweigert, könnte ich betteln (2. Handlungseinheit), dann drohen, dann erpressen … und schließlich das Geld bekommen oder diese Absicht aufgeben (und statt dessen ohne dieses Geld weiterleben).

Handlungseinheiten und Regiefragmente

Die Absichten einer Figur gliedern den Text in Regiefragmente. Diese bewirken also die Einteilung des Textes in verschiedene Absichten der jeweils handlungsführenden Figuren. Die Strategien der Handlungen, die ein und dieselbe Absicht verfolgen, aber nenne ich Handlungseinheiten. Mittels dieser Bündel von Sätzen zu Handlungseinheiten und von mehreren Handlungseinheiten zu Regiefragmenten werfe ich über etwas, was eigentlich „Text“ ist, das Netz eines Handlungsrasters. Ein Handlungsraster in zwei verschiedenen Größen, oder „Maschenweiten“: die weiten Maschen der Absichten und die engeren Maschen ihrer Strategien. Dadurch verwandelt sich Text in eine Spielpartitur und ich erhalte allererst das Material, das ein Schauspieler spielen kann.

Diese Spielpartitur ist erst spielbar. Erst sie hat die Materialart, die Beschaffenheit des Spielbaren. Denn ein Text kann zwar gesagt (und betont) werden, aber ihn kann man nicht spielen. So, wie es dem Sänger nicht reicht, den Liedtext zu bekommen, sondern die Noten braucht, so braucht der Spielvorgang die Handlungen.

In diesem ersten Schritt der Analyse findet also der Schauspieler sein Material.

Handlung als Eindruck: das innere Erleben

Die im ersten methodischen Schritt der Arbeit er-/gefundenen Handlungen haben eine doppelte Identität: sie sind wesentlich ein inneres Erleben, das sich zugleich auch verkörpert. Immer beides und immer zugleich! Und dennoch, im Arbeitsprozess beginne ich beim Eindruck. Wir gehen – idealerweise (doch dazu später mehr!) – von Innen nach Außen. Denn eine Handlung gleicht einem Eisberg, der im Wasser schwimmt: 3/4 seiner Masse liegen unter dem Wasserspiegel und das lebendige Verhältnis von Eindruck und Ausdruck ist jenes, in dem der Eindruck seinen Ausdruck bei Weitem übersteigt.

Zum inneren Erleben gehören mehrere Aspekte: zunächst die Bewertung der Situation (wie erlebt die Figur die Situation, in der sie sich befindet?), die Motivation (warum will sie diese Situation ändern?), die Absicht (wozu, auf welches Ziel hin, handelt sie?), der Charakter (welche Eigenschaften lassen sich der Figur zuschreiben?), die Grundeinstellung (welche – unbewusste – Haltung hat eine Figur sich selbst und der Welt gegenüber?), der innere Film (dazu gleich mehr).

Zumeist wird viel über den Charakter einer Figur gesprochen, doch ist dieser das am wenigsten voranbringende Element des Erlebens. Denn „Charakter“ ist eine Sammlung, eine Liste von Eigenschaften. Diese sind alle nicht spezifisch (sondern allgemeine Begriffe) und noch dazu von einem Blick von außen her auf die Figur geleitet. Keine dieser Eigenschaftsworte, die man der Figur zuschreiben wollte, trifft sie in ihrer Individualität, in ihrem alogischen Kern, der sich der Begrifflichkeit entzieht. Und so geht es dem Schauspieler im Versuch, den Charakter seiner Figur zu fassen, womöglich wie einem Theologen, der über Gott sprechen möchte: weil jede Aussage begrenzt und begrenzend ist, muss sie durch eine weitere ergänzt und relativiert werden, und das ad infinitum …

Fruchtbarer sind die Überlegungen zu und das Verinnerlichen der Motivation – sofern man hier menschlich-konkret bleibt und kein psychologisches Deutungsgebäude errichtet (das zwar intellektuell stimmig sein mag, jedoch nicht erlebbar ist).

Wesentlich wichtiger noch ist der Gegenpart der Motivation, die Absicht der Figur. Warum ist das so, wenn doch beide gewissermaßen eins sind und nur in verschiedene Richtungen blicken, die Motivation zurück, die Absicht voraus? Nun, genau aus diesem Grund des „Auf-etwas-hin-Strebens“ der Letzteren. Im besten Fall reiht sich in einer Darstellung eine Handlung an die nächste, wie die Glieder einer Kette, die ineinandergreifen, wie ein perpetuum mobile. Der Zeitstrahl des Handelns verläuft nach vorne, in die Zukunft, die mit jeder Handlung Gegenwart wird und eine neue Zukunft intendiert und erschafft. Auf diesem Zeitstrahl macht es einen Unterschied für den Spielvorgang, ob der Schauspieler (bzw. die Figur) motivationsgeleitet aus einer Situation weg will oder absichtsgesteuert auf eine neue Situation hinstrebt.

Der Begriff „Absicht“ darf hier nicht dazu verleiten, sie so zu verstehen, als sei sie der Figur bewusst. Selbstverständlich ist eine Figur-Absicht, die dem Schauspieler – aufgrund des Arbeitsprozesses – bewusst ist, für die Figur selbst oft unbewusst (und sollte auch so gespielt werden!). – Ein weiteres ungemein spannendes Problem des Spielens, auf das ich ein anderes Mal eigens eingehen muss.(Die Liste zu weiteren Ausführungen in zukünftigen Artikeln wird immer länger …)

Auch in Stanislawskis Schauspielmethode nimmt die Absicht die zentrale Rolle in der Erarbeitung der Handlung ein. So sehr ist er von ihrer Leitfunktion überzeugt, dass er das Spielen der Absicht auch kurz als „Aufgabe“ des Darstellers bezeichnet!

Die Grundeinstellung der Figur ist noch mehr mit der Schwierigkeit behaftet, dass sie der Figur selbst unbewusst ist. Zudem handelt es sich hier – anders als bei den Charaktereigenschaften – um ein recht diffus zu erfassendes Phänomen. Welchen Platz weist sich jemand intuitiv im Verhältnis zu anderen Menschen und zur Welt zu? Erlebt sich eine Person als Zentrum ihrer Welt oder als Zuschauer? Sieht sie sich als Opfer (anderer oder der Umstände), als Rächer, als Entdecker, …? Sind andere Menschen ihr Publikum, ihre Partner oder Statisten ihres Lebensspiels?

Alle Formulierungen hier geraten zwangsläufig literarisch, denn die Grundeinstellung ist obskur. Wenn es gelingt, ein Lebensgefühl der Figur anzudeuten und ins Erleben des Schauspielers zu holen, dann wäre ein wichtiger Schritt in der Arbeit am inneren Erleben der Handlung getan.

All diese Erlebnisse der Figur, diese Eindrucksbestimmtheiten einer Handlung: wie kommen sie im Inneren vor? In welcher Form geschehen sie? Nicht (nur) in Form von Gefühlen und schon gar nicht als Gedanken. Sie manifestieren sich als eine Art „Bewusstseinsstrom“ (ein genialer Ausdruck von E. Husserl), als ein „innerer Film„, wie man auch sagen könnte. Wobei: „Film“ ist insofern irreführend, als das innere Erleben nicht ausschließlich visuell geprägt ist. Es spielen alle Sinne herein und sogar begriffliche Gedankenfetzen durchweben den Bewusstseinsstrom.

Ist ein Schauspieler an den Punkt gelangt, das Bewusstsein (im Sinne des Bewusstseinsstroms) einer fiktiven Figur einzunehmen und diesen ihren inneren Film passiv zu erleben, aus ihrem Sein heraus zu bewerten, zu wollen, zu beabsichtigen, auf ihrem Standpunkt zu stehen – dann wäre die Arbeit am Eindruck vollendet. Unter Begabung – übrigens – kann man die Fähigkeit eines Schauspielers verstehen, eine fiktive Situation, fiktive Motive und Absichten, fiktive Einstellungen etc. so zu erleben, als wären sie real, als wären sie seine eigenen.

Handlung als Ausdruck: die Verkörperung

Unter solchen idealen Voraussetzungen, die ungeachtet dessen, dass sie – außer in seltensten Momenten – ein Ideal bleiben, entsteht der Ausdruck einer Handlung „von selbst„. Das innere Erleben verkörpert sich unmittelbar entsprechend der Situation, der Absicht und dem Wesen der Figur.

Aufgrund jedoch verschiedener – vielleicht als „Deformation“ zu bezeichnender – Besonderheiten des Menschen, geschieht dieses „Von Selbst“ nur in auserwählten Momenten und nicht einfach so. Daher schließt sich an den ersten methodischen Schritt der schauspielerischen Arbeit, der Textanalyse, die „Analyse in Aktion“ als zweiter Schritt an. Hier wird in den Proben körperlich ausprobiert, wie sich das Erleben ausdrücken könnte. Das Proben ist also kein Üben, sondern ein (Ver-)Suchen. Dieses Suchen nach dem Ausdruck basiert zu einem großen Teil auf ein Durchlässigmachen des Körpers für die inneren Impulse des Erlebens.

Der Ansatzpunkt des Spielvorgangs

Der Spielvorgang kann also erst starten, wenn der zunächst vorliegende Text in eine spielbare Handlungspartitur verwandelt worden ist. Die als erstes analysierten Handlungssequenzen habe ich bereits angesprochen: es sind die Handlungseinheiten, die eine (bewusste oder unbewusste) Strategie zur Umsetzung der Absicht der Figur darstellen.

Doch die Handlung ist eine der komplexesten menschlichen Phänomene und diese Ebene der Handlungseinheiten bildet nur eine der Dimensionen des Handelns. Wie in einer Babutschka (diese russischen Holzpüppchen, die hohl sind und in sich wiederum eine kleinere Puppe bergen usw.) ist das Handeln eine Art System, das von der Handlungseinheit ausgehend noch nach oben wie auch nach unten hin erweitert werden muss.

Regiefragment

Schauen wir zunächst auf die übergeordneten Ebenen, die wir in einem zweiten Schritt der Handlungsanalyse bestimmen müssen: Wenn die Handlungseinheiten Strategien sind, dann ist es entscheidend, jene Absichten zu entdecken, unter denen sie sich eingliedern. Mehrere Handlungseinheiten formieren ein Regiefragment, das die jeweils zugehörige Absicht der einzelnen Strategien fasst.

Nachdem in Shakespeares „Hamlet“ der Geist offenbart hat, dass er Opfer eines Mordes wurde und diese Tat von seinem Bruder begangen wurde, hat Hamlet die Absicht (Regiefragment) diese Behauptung des Geistes zu prüfen. Das geschieht in mehreren Handlungseinheiten (Strategien) bis schließlich die Strategie: „Schauspieler spielen die Ermordung vor dem Königspaar“ die Absicht des Prüfens erfüllt (denn der Brudermörder verlässt fluchtartig den Saal). Jetzt entsteht eine neue Absicht und damit ein neues Regiefragment mit den ihm zugehörigen Strategien bzw. Handlungseinheiten. Eine Absicht (und die ihr unterstehenden Strategien) endet, wenn sie sich für die Figur erfüllt oder wenn die Figur auf die Erfüllung verzichtet, weil sie zum Beispiel nicht mehr an diese Möglichkeit glaubt.

Wie auch die Handlungseinheiten, sind auch die Regiefragmente aus der Sicht der handlungsführenden Figur erstellt, das heißt, aus der Sicht derjenigen Figur, welche (auf der Ebene des Textes betrachtet) mit einer ersten (Sprech-Handlung bzw. einem ersten Satz oder einer ersten nonverbalen Handlung) beginnt, etwas gegenüber dem Vorhergehenden Neues zu tun. Das ist eine Frage der Interpretation in der Analyse. Es greift hier die Entscheidung, was ist eine (neue) Aktion und was ist eine Reaktion auf Vorangegangenes. Wie auch schon die Handlungseinheiten, sind die Regiefragmente personenbezogen.

Periode

Demgegenüber ist die äußerste Strukturform (die größte Babutschka) unpersönlich und situationsbezogen. Sie definiert die objektiven äußeren Umstände von Handlungen. Unter einer „Periode“ verstehe ich den Teil einer dramatischen Entwicklung, die einheitliche Handlungsoptionen (für Absichten und Strategien darin) bereitstellt. In „Hamlet“ beispielsweise finde ich drei Perioden: Periode 1 bis zum Erscheinen des Geistes (Hamlet betrachtet die schnelle Hochzeit der Mutter skeptisch und trauert, weiss aber nichts von einem Verbrechen), Periode 2 bis zur Flucht des Königs aus der Schauspieldarbietung, die seinen Mord erzählt (Hamlet prüft die Angaben des Geistes noch ohne Gewissheit über deren Wahrheit), Periode 3 bis zum Ende (Hamlet vollzieht die aus seiner Sicht korrekte Rache bzw. übt Gerechtigkeit). Jede Periode hat die ihr eigene Atmosphäre, man könnte sagen: ihr eigenes Lebensgefühl (durch Bühnenbild, Licht, Ton, aber natürlich auch durch die Spielweise der Darsteller).

Hauptgedanke und Einschub

Das gegenüber der Handlungseinheit kleinere (und letzte) Strukturierungselement (die kleinste Babutschka also, jene, die selbst nicht mehr hohl, sondern der Kern ist) ist die Sprechhandlung mit ihrer Unterscheidung zwischen Hauptgedanke und Einschub. Sprachlich betrachtet, vollzieht sich eine Handlungseinheit durch mehrere Sätze, zumindest aber über einen Satzteil. Diese Sätze bezeichne ich nun, da sie dem Vollzug einer Handlung dienen, als „Sprechhandlungen“.

Es stellt sich nunmehr, in der Analyse des Textes die Frage, wie sich die Strategie (Handlungseinheit) vollzieht. Denn sie stellt ja einen Verlauf in der Zeit dar; sie beginnt, entwickelt sich und endet. Dieses Ablaufen gilt es zu verstehen. Die Unterscheidung zwischen dem Hauptgedanken und den eventuellen Einschüben macht den Vorgang der Handlungseinheit sichtbar.

Der Hauptgedanke ist jener Teil eines Satzes (bzw. einer Sprechhandlung, wie wir sie jetzt nennen), der die Information beinhaltet und – grammatikalisch korrekt, ohne Umstellungen von Worten – für sich stehen könnte. Mit „Einschub“ bezeichne ich all jene Worte und Satzteile, die – ohne sachlichen Informationsverlust – wegfallen könnten. Zum Beispiel der berüchtigte Satz(-teil): „Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage …“: „Sein – Nichtsein?“, als Frage gesprochen, wäre der Hauptgedanke. Das Wort „oder“ markiert nur die Handlung „eine Alternative sagen“ und besitzt selbst keinen Informationsgehalt. „Das ist hier die Frage“ ist eine Verdoppelung zum Fragen „Sein – Nichtsein?“ Diese sind also alle „Einschübe“!

In der Analyse würde die Sprechhandlung also so aussehen: „Sein [oder] Nichtsein, [das ist (hier) die Frage] …“ Die Einschübe (1. Grades) in den eckigen Klammern sind Handlungsmarker, die von der Figur spontan ausgeführt werden. Das „oder“ meint die Suche bzw. Wahl des besten Gegensatzwortes zu „Sein“: nicht „Nichts“, nicht „Sterben“, sondern „Nichtsein“. „Das ist hier die Frage“ ist die Entdeckung, dass keine andere Entscheidung wichtig ist, als genau diese. Das Wort „hier“ ist ein Einschub 2. Grades, ein Einschub innerhalb eines Einschubs, und akzentuiert das Gefühl Hamlets, dass andere Fragen bisher berechtigt waren, aber jetzt, bzw. hier, an diesem Punkt, stellt sich nunmehr diese Frage nach dem Nichtsein als Option.

So detailliert und genau bohrt sich die Textanalyse, die die Handlung aus den Worten freilegen muss, in die Sätze hinein.

Die sprechtechnische Gestaltung des Ausdrucks

Welchen Unterschied macht es auf der Ebene des Ausdrucks, ob der Schauspieler einen Text spricht (mit allen raffinierten Betonungen) oder ob er ihn handelt?

Sprechhandlung und Sprechergebnis

Nun, wenn Handlung immer von einem lebendigen inneren Erleben hervorgebracht wird, dann ereignet sich der Ausdruck quasi spontan, Jetzt und Hier vor unseren Augen und Ohren. Antonin Artaud sagt deshalb, Theater sei die Kunst dessen, was sich niemals wiederholt. Wie ist das zu verstehen, wenn doch die wochenlangen Proben zu bestimmten sprachlichen Ausdrucksformen führen, die dann auch von Aufführung zu Aufführung mit einer gewissen Festlegung wieder „auftauchen“?

Es ist eine Frage der Perspektive, aus der ich auf die sprachliche Gestalt blicke: für den Zuschauer mag sich derselbe sprachliche Ausdruck wiederholen, wenn er die Aufführung mehrmals sieht, de facto aber, aus der Sicht des Schauspielers, entsteht der Ausdruck jedesmal neu. Er läßt ihn jedesmal aufs Neue, im Moment des Spielvorgangs, aus dem inneren Eindruck hervorgehen. Das Merkmal handelnden Sprechens ist also nicht die Tonalität des Ergebnisses, sondern der Weg des Hervorbringens, der jedesmal neu gegangen werden muß. Und die Qualität der Proben zeigt sich – auch – in der Frage, ob der Weg so stimmig ist, dass er immer wieder zu einem in hohem Maße identischen Ergebnis führt.

Die Zäsuren

Pradoxalerweise ist der Moment des Nicht-Sprechens, die „Pause“, eines der wichtigsten sprechtechnischen Gestaltungselemente. Da wir uns aber in dieser Methode in einem Handlungsvorgang befinden, spreche ich nicht von „Pausen“, sondern von Zäsuren. Denn in diesen geschieht nicht nichts, sondern es ereignet sich der sprachlose Übergang von einer Handlung zur anderen (Schwelle zwischen zwei Regiefragmenten), von einer Strategie zur nächsten (Schwelle zwischen zwei Handlungseinheiten) oder von einem Hauptgedanken zu einem Einschub und umgekehrt. Zäsuren markieren immer einen Wechsel. Und sie ermöglichen diesen Wechsel technisch gesehen auch erst dadurch, dass sie dem sprechenden Schauspieler die Zeit geben, ihn zu tun.

Ihre objektive Länge (oder subjektiv empfundene Tiefe) hängt davon ab, wie einschneidend die Figur diesen Wechsel erlebt und vollzieht. Wir unterscheiden, in Anlehnung an die Noten in der Musik, 1/8, 1/4, 1/2 und 1/1 Zäsuren, wobei die 1/8 nur der Trennung zwischen zwei aufeinanderfolgenden Worten entspricht (statt dem gebunden gesprochenen „nurGeld“: „nur V Geld“). Die 1/4 Zäsur ließe sich etwa durch ein Komma, die 1/2 durch ein Semikolon abbilden. Und die 1/1 Zäsur entspräche ungefähr der Interpunktion eines beendeten Satzes (durch einen Punkt).

Die Betonungen

Eine Betonung hat einen Effekt, den man genau verstehen muss. Sie hebt nicht nur etwas hervor, sondern lässt damit zugleich – unausgesprochen – die Möglichkeit(en) da sein, gegenüber der das Betonte hervortritt. Deswegen nenne ich die Betonung eine negative Hervorhebung.

Nehmen wir als Beispiel den Satz: „Ich will einen Apfel“. Bei der Betonung auf „ich“ entsteht zugleich die Bedeutung „und nicht jemand anderes“. Die Betonung auf „will“ ergibt den Sinn: „du hast mich falsch verstanden, wenn du denkst, dass ich ihn nicht will“. Liegt die Betonung auf „einen“, so kämpft der Sprechende gegen das Angebot „mehrerer“ (Äpfel) und im Falle der Betonung von „Apfel“ ist die abgewiesene Bedeutung „Birne“ (zum Beispiel) mit anwesend.

So sind Bedeutungen immer auch verräterisch und zeigen an, wogegen der Sprechende ankämpft, ohne dass er dieses explizit nennt und nennen muss.

Die sprachlichen Modalitäten

Rein technisch betrachtet, erzeugt unser Sprechen die unendliche Vielfalt von Bedeutungen, Andeutungen und Stimmungen mit nur sehr wenigen Mitteln. Erst die Nuancierung dieser Mittel und ihre Kombinationen führen zu den mannigfaltigen Möglichkeiten sprachlichen Ausdrucks.

Die Stimme und das Sprechen erschöpft sich formal betrachtet in die Dualitäten: höher – tiefer, schneller – langsamer und lauter – leiser. Ihre Abstufungen und Kombinationen lassen die Welt des Sprechens in all ihrem Reichtum entstehen. Wie sehr gilt hier, dass das Ergebnis die Mittel bei weitem übersteigt, oder auch, dass das Ganze so viel mehr als nur die Summe der Teile ist.

Das Erlebnis, das uns Sprache schenkt, wird dabei nicht durch eine virtuose Wahl und Kombination der Mittel im Sinne von Kontrast und Abwechslung erreicht. Das Erlebnis entsteht nicht durch einen Kunstgriff und rationaler Technik. Es entsteht durch die unbewusste Verkörperung der inneren Handlungsaspekte durch die Stimme. Dafür ist der Aufbau des inneren Eindrucks genauso entscheidend wie die Durchlässigkeit der spezifischen körperlichen Ausdrucksmittel (Atmung, Haltung, Stimme, Artikulationsorgane etc.).

Das Ziel des Spielvorgangs: die Verkörperung

In der schauspielerischen Arbeit bewegen wir uns vom Text über die Gestaltung des Eindrucks auf den Ausdruck, auf die Verkörperung der Handlung zu (dritter Arbeitsschritt). Diese Verkörperung selbst ist nur zu einem bestimmten Teil Ergebnis eines analytischen und bewussten Vorgangs. Immer strebe ich den Ausdruck als unbewusst entstehende Verkörperung an. In diesem Sinne spricht auch Stanislawski davon, dass der Ausdruck „von selbst“ entstehen solle.

Doch was, wenn es nicht geschieht? Was, wenn das innere Erleben sich nicht selbst Bahn bricht in den Körper? Wenn die Realität der Arbeit zu einem gewissen Zeitpunkt dem Ideal nicht entspricht? Und zwar nicht aufgrund mangelnder Begabung oder schlechter Vorarbeit, so dass der Körper des Schauspielers wenig expressiv, das innere Erleben arm und nicht stimmig wäre.

Immer – das ist das Prinzip des Ansetzens bei der Handlung und ihrem Ursprung im Eindruck – gilt es dieses Erleben so eindrücklich zu gestalten und in sich zu erzeugen, dass es sich selbst in den Ausdruck formt. Dafür kann als Technik auch der Arbeitsmoment der „Methode der physischen Aktionen“ sehr sinnvoll sein. Der Schauspieler vollzieht kalt, aber wachsam und gewissermaßen suchend, eine rein körperliche Handlung und erzeugt damit das an dieser gekoppelte innere Erleben. Es ist der umgekehrte Weg, der jetzt vom Ausdruck zum Eindruck führt. Nicht, um diesen erprobten Ausdruck zu fixieren und in der Inszenierung zu verwenden, sondern nur, um ihn methodisch als Brücke in die Innerlichkeit einzusetzen. Von dorther wird sich dann im weiteren Probenverlauf und in den Aufführungen die Verkörperung wieder ereignen.

Die Verkörperung selbst ist entweder non-verbal (Bewegungen, Gesten, Mimik) oder verbal. Als verbaler Ausdruck der Handlung ist sie – auf formaler Ebene – identisch mit dem Text, der dem Arbeitsvorgang zugrunde liegt. Tatsächlich und inhaltlich betrachtet aber ist der verbale Ausdruck nur die sprachliche Seite der Handlung, die „Sprechhandlung“ und damit etwas anderes als ein „gesprochener Text“.

Die Rückwärtsbewegung: Vom Text zur Notwendigkeit der Sprechhandlung

Im Moment der Inszenierung angekommen, sind wir mit der schauspielerischen Arbeit einen Kreis gegangen. Wir haben uns rückwärts vom Text beweg. Wir haben uns dahin zurückbewegt, wo die Notwendigkeit der Handlung entsteht: im Erleben des Handelnden. Wenn dieser dann von dorther die Handlung vollzieht, dann kommt er im verbalen Ausdruck wieder zum Text. Nur, dass dieser jetzt kein Text mehr ist, sondern die verbale Verkörperung von Bewertungen, Motiven, Absichten und Grundeinstellungen.

Skizze der Schauspielarbeit vom Text zur Handlung, von der Handlung zum inneren Erleben, vom Erleben zur Verkörperung.
Skizze des Arbeitsvorgangs

Hinter dieser Methode steht eine lebensnotwendige Frage für die Schauspielkunst: wie ist die (Re-) Konstruktion eines lebendigen Ausdrucks möglich? Ist das nicht ein Widerspruch in sich? Ist nicht die Tatsache, dass der Ausdruck „erarbeitet“ und „geprobt“ wird, dass er in mehreren Aufführungen „geschieht“, ist dies alles nicht schon die Unmöglichkeit von Authentizität und Lebendigkeit?

Das alles würde noch weiter führen, zu dem Problem, ob und inwieweit etwas Fiktives überhaupt „echt“ und real sein kann. Dieser kunstphilosophischen, ja, eigentlich ontologischen Frage müsste man eigens nachgehen. Ich möchte aber nur darauf verweisen, dass eine Handlung als solche nie fiktiv ist. Sie geschieht und das Erleben, dem sie entspringt, ereignet sich wahrhaftig , „so, als ob es real wäre“, im Inneren des Spielenden.

Durch diesen Ansatz, den Spielvorgang auf die Handlung zu gründen, ist eine eigene Wirklichkeit des Schauspielens möglich. Eine, die nicht mit „Realismus“ und „Naturalismus“ (welche lediglich Stile darstellen) gleichzusetzen ist. Da der Schauspieler diese Handlung der Figur finden und sich zu eigen machen muss, ist sie – entsprechend den Regeln, wie Handeln geschieht – in der Arbeit zu konstruieren. Wenn diese Konstruktion sich das Entstehen und die innere Gesetzmäßigkeit von Handeln vornimmt und nicht bloß Imitation realer Handlungen darstellt, dann entsteht daraus kein Widerspruch zu Echtheit und Lebendigkeit.

Der Schauspieler ahmt keine realen Handlungen (als Endprodukte verstanden) nach, er „ahmt nach“, er re-konstruiert, wie Handlungen in Menschen entstehen und wie sie zum Ausdruck kommen.

Es ist also der Prozess menschlichen Handelns, der methodisch aufgeschlüsselt und aktiviert wird. Das Spannende daran ist, dass ich beginne, diesen Prozess – insbesondere die Textanalyse – auf nicht-dramatische Texte anzuwenden. Mit dem Ergebnis begeisternder Vorträge.

Ein aufgeregter Mann will durch ein freischwebend auf der Bühne aufgehängtes Fenster in einen Raum steigen.
Roger Vitracs „Victor oder Die Kinder an die Macht“, Inszenierung von Elma Esrig

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Blog
Schauspiel und Regie, Vortragstraining

Die „unsichtbare Geste“ im Schauspiel- und im Vortragstraining

April 15, 2022

Vortragstraining 1

Die Figur Nastja aus Maxim Gorkis „Nachtasyl“

In der schauspielerischen Arbeit bewegen wir uns wie ein Krebs rückwärts. Wir gehen vom vorliegenden Rollen-Text zurück, dahin zurück, wo er entsteht. Wir wollen dahin zurück gehen, wo die Notwendigkeit für diese Äußerung (in einer Person, einer Figur) entstand.

Vom Text zur Handlung

Zeitlich betrachtet ist der Text das erste Momentum vor der Arbeit des Schauspielers, er bildet unsere Ausgangssituation, wenn wir mit der Arbeit beginnen. 

Aber einen Text kann man nicht spielen. Er läßt sich sagen, betonen, intonieren … spielen wird man immer eine Handlung. Sie ist das Material des Spielvorgangs. 

Für den Schauspieler bildet der erste Schritt vom Text zum Spiel also dessen Verwandlung in eine Spielpartitur. Das ist sein erster und entscheidender Arbeitsschritt, denn damit wird der Bereich des Spielbaren eröffnet. 

So wie ein Sänger Noten (oder Töne) braucht, um einen Text zu singen, so braucht ein Schauspieler die Handlung, die sich (unter anderem) in Worte und Sätze ausdrückt. Die Deutung eines Textes als Abfolge von Aktionen und das Verständnis von Sätzen als Sprechhandlungen ist der erste Rückwärtsschritt dahin, wo dieser Text ursprünglich entsteht.

Natascha aus Tschechovs „Drei Schwestern“

Handlung: inneres Erleben und Verkörperung

Die Handlung selbst ist ein Januskopf. Sie hat als „Vorderseite“ den Ausdruck (die „Verkörperung“), als „Rückseite“ den Eindruck (das „innere Erleben“). Obwohl beides – wie bei einer Münze – untrennbar voneinander ist, so gibt es doch eine Gewichtung zugunsten des inneren Erlebens. Dieses ist der Grund und der Anlass für den Ausdruck. Daher behauptet Konstantin Stanislawski, dass wir im Schauspiel am Unsichtbaren und Unhörbaren arbeiten. Wir arbeiten an der Quelle des Ausdrucks. 

Das innere Erleben, das seine Verkörperung (im Idealfall „von selbst“) hervorbringt, entfaltet sich in verschiedenen Aspekten: Charakter (Eigenschaften), Bewertung der Situation, Grundeinstellung , Motivation, Absicht, „innerer Film“ (eine Art „Bewusstseinsstrom“ à la Husserl, verwandt mit dem „Subtext“ bei Stanislawski).  

Vortragstraining 2
Der Schauspieler aus Maxim Gorkis „Nachtasyl“

Die Absicht

Unter diesen Aspekten des inneren Erlebens, die man auch als Elemente des Erlebens mit je eigenem Schwerpunkt verstehen kann, ist die Absicht das fruchtbarste Arbeitsmittel. Sie ist es, welche die Handlung auf dem Zeitstrahl des Geschehens nach vorne hin bewegt. Generell betrachtet entsteht eine Absicht aus der Kollision zwischen der Bewertung der Situation und der Grundeinstellung der Figur, ihre Eigenart wiederum wird von deren Charakter bestimmt. 

Indem für die handelnde Person die bestehende Situation (in ihrer subjektiven Auffassung) nicht mit ihrer Sicht auf die Welt und auf sie selbst übereinstimmt, entwickelt diese eine Absicht. Diese ist der Versuch, die Situation dahingehend zu verändern, dass sie als „ideal“ empfunden werden kann.

Man könnte es auch so formulieren: Absicht ist das Wozu einer Handlung, sie verweist nach vorn auf ein Ziel (während die Motivation ihr Warum markiert und daher rückwärts eine Ursache kennzeichnet). 

Da jedoch die Handlung sich nach vorne hin bewegt und entfaltet, betont Stanislawski die Vorrangstellung der Absicht der Handlung in der schauspielerischen Arbeit: Die Absicht der Figur ist die Aufgabe des Darstellers.

Laura aus „Die Glasmenagerie“ von Tennessee Williams

Verhältnis von Eindruck und Ausdruck in der Handlung

So wie die Absicht eine Vorrangstellung hat unter den verschiedenen Aspekten des inneren Erlebens der Handlung, so hat auch dieses innere Erleben selbst ein absolutes Übergewicht in der Arbeit gegenüber der Verkörperung. Denn der Ausdruck der Handlung soll als „Spitze eines Eisberges“ fungieren, und so, wie jeder echte Eisberg nur zu einem kleinen Teil über dem Meeresspiegel sichtbar ist und sich zum größten Teil unter der Wasseroberfläche befindet, so ist auch der Ausdruck oder die Verkörperung nur echt, lebendig und faszinierend, wenn ihre Quelle sie im Maß übertrifft und im Inneren der handelnden Person in diesem Übermaß geschieht. 

Das Verhältnis zwischen Eindruck und Ausdruck in der Darstellung des Schauspielers zeichnet sich also dadurch aus, dass ersteres nur zu einem Teil in seine explizite Verkörperung übergeht. Der weitaus größere Teil der Handlung liegt unsichtbar und unhörbar im Bereich des Erlebens. Ja, man könnte so weit gehen, zu behaupten, dass unter günstigsten Bedingungen (Arbeitssituation, Begabung) der Ausdruck gar keiner eigenen Arbeit bedarf, dass er „von selbst“ entsteht, wenn zuvor das innere Erleben kraftvoll und stimmig aufgebaut wurde.

Abigail aus Arthur Millers „Hexenjagd“

Methode der physischen Aktion

In der Arbeit am inneren Erleben der Handlung gibt es jedoch eine spezielle Vorgehensweise (der sich vor allem Meyerhold, ein Schüler Stansilawskis, bedient hat): die Methode der physischen Aktionen.

Wenn Eindruck und Ausdruck wie zwei Seiten einer Münze untrennbar miteinander verknüpft sind, dann ist nicht nur der Weg vom Erleben zur Verkörperung, sondern auch der umgekehrte von der Verkörperung zum Erleben möglich. In diesem Fall arbeiten wir eben doch direkt am Ausdruck, nicht jedoch, um diesen selbst zu fixieren, sondern nur, um mittels körperlicher Aktionen das innere Erleben zu wecken. Ist es gelungen, dann bahnt dieses Erleben sich selbst den Weg in seine Verkörperung.

Ausdruck und die „unsichtbare Geste“

Die Verkörperung der Handlung selbst ist non-verbal (Mimik, Gestik, Bewegung) und/oder verbal. Als verbale Handlung deckt sie sich inhaltlich mit dem Text, vom dem der sich rückwärts bewegende Arbeitsvorgang ausging. Hier schließt sich also der Kreis. Doch die „Rückkehr“ zum Text, oder besser gesagt: das Wieder-Ankommen beim Text hat diesen verwandelt. Er ist jetzt verbale Aktion, verbaler Ausdruck einer Handlung. Und ebenso wie die nonverbale erhält auch die sprachliche Verkörperung ihre Überzeugungskraft und Lebendigkeit von der Präsenz der handelnden Person. Das heißt von deren Befähigung, das innere Erleben in sich so groß und stimmig aufzubauen, dass es den Ausdruck um ein Vielfaches übersteigt. Es ist die Kraft zur „unsichtbaren Geste“, welche die Präsenz des Handelnden ausmacht.

Vortragstraining 3
Wassilissa aus Maxim Gorkis „Nachtasyl“

Vorträge (von Nicht-Schauspielern) mit Schauspieltechnik vorbereiten

So wie in den Schauspielproben, arbeite ich im Vortragstraining in erster Linie an der Handlung, die sich mittels der Worte ausdrückt.

Gemeinsamer Ursprung und das Problem der Authentizität

Das Vortragen und das Schauspielen haben einen gemeinsamen Ursprung: die Dionysien (Festspiele im antiken Griechenland, Sprechgesang-Chöre). 

Aus diesen haben sich die griech. Tragödien und Komödien und in Folge das Theater, bis dahin wie wir es heute kennen, entwickelt. Insbesondere Ende 19./20. Jahrhundert begann in der Theatertheorie und -Methodik eine immer mutigere und (de facto) lebensnotwendige Auseinandersetzung mit der Frage nach der Authentizität und ihren technischen Bedingungen: Wie wird aus dem „Vortragen“ eines vorausliegenden Textes ein lebendiger Sprechakt? 

Die Ergebnisse dieser Überlegungen und die daraus resultierenden Techniken sind unabhängig von der Fiktionalität des Sprechers (Figur) und seiner Situation!

Einfluß der Sprechakttheorie

Insbesondere die philosophischen Ansätze von John Austin („How To Do Things With Words“) und John Searle in den 60-er/70-er Jahren erwiesen sich als ungemein befruchtend. 

Für die Schauspieltheorie übernahm man den Gedanken, dass Sprechen Handeln, und das „Informieren“ dabei nur eine von über 25 möglichen Handlungen ist.

Dieser Ansatz liegt der Schauspieltechnik zugrunde, die ich auch für das Vortragstraining einsetze. Damit versteht sich mein Training nicht als Sammlung von Tipps und Tricks mit dem Ziel einer Optimierung, sondern als eine grundlegende Neuorientierung in der Frage des Wesens, der Vorbereitung und der Darbietung von Vorträgen.

Story-Acting

Das inzwischen etablierte „Storytelling“ als Methode der Gestaltung von Vorträgen (und ebenso von Posts in den Social Media) wird in meiner Vorgehensweise zu einem „Story-Doing“ bzw. einem „Story-Acting“. 

Wir „tragen“ – im Moment des Vortrags – nichts Fertiges vor, wir „erzählen“ keine zuvor bestehende Geschichte, sondern handeln die (natürlich schriftlich vorbereiteten Inhalte) Jetzt und Hier, vor den Augen und Ohren der Audience. Damit einher geschieht nicht nur eine Aktualisierung des Geschehens, sondern auch eine „Ent-Intellektualisierung“, indem das Was-der-Vortragende-(mit den Inhalten)-tut, in den Vordergrund rückt.

Erstellen einer Handlungspartitur

Ist der Vortragstext fertig formuliert und in einer klaren äußeren Gliederung thematisch strukturiert, beginnt der schauspieltechnische Teil der Vorbereitung: die innere Dramaturgie der Sprechhandlungen. Dafür gliedern wir den Text entsprechend seiner Grundabsicht in einzelne Handlungseinheiten, die mittels sogenannter „Schwellen“ voneinander getrennt werden. Manche Schauspiellehrer verwenden hier den Begriff „Brüche“. Das erscheint mir irreführend, weil im Ende jeder Handlungseinheit ein „Impuls“ wirkt, der den Übergang zur nächsten Handlungseinheit ernötigt. Insofern ist hier eher von einem (unterschiedlich harten) „Übergang“ die Rede als von einem (zusammenhangslosen) „Bruch“. Das Ziel dieser Dramaturgie ist eine Art „perpetuum mobile„, in welchem eine Handlungseinheit in ihrem Verlauf die nächste organisch hervorbringt, im Idealfall ohne akutes Managen seitens des Sprechenden.

Beispiel einer Handlungspartitur

Die Rückwärtsschritte der Arbeit

Die Inszenierung

Der Handlungsablauf der sprachlichen Aktionen wird schließlich wird „in Szene gesetzt. Dabei geht es im Wesentlichen um den Ausdruck der Sprechhandlungen und um die Wirkung auf ein Publikum, so dass dieses mit den Handlungen des Sprechers in Resonanz geht. D.h.: sie erkennt und versteht, sie (emotional) erlebt und durch sie bewegt wird.
Die Inszenierung ist ein äußerst komplexes Thema und kann hier nur in einigen Bestimmungen, die sprachlichen Aktionen betreffend, angerissen werden.

1) Zäsuren

Die erste, und eine der wichtigsten Möglichkeiten Sprechhandlungen zu inszenieren, sind paradoxerweise die „Pausen“. Wir sprechen jedoch richtiger von „Zäsuren“, weil in ihnen nicht nichts, sondern die Veränderungen, die Umschwünge geschehen.

Das erste Beispiel für Zäsuren sind die Schwellen zwischen zwei Handlungseinheiten. Ein weiterer Einsatz von Zäsuren findet sich innerhalb der Handlungseinheiten, um ihren Verlauf zu akzentuieren und um verschiedene Handlungsebenen zu ermöglichen. Zäsuren haben keine definierte objektive Länge, ihre Längen sind relativ zueinander (eine Zäsur ist also zum Beispiel doppelt so lang wie eine andere), analog zur Länge von Noten.

2) Betonungen

Betonungen sind negative Hervorhebungen. Sie lassen das unausgesprochen mit-anwesend sein, was durch die Betonung verneint wird. Wenn ich also zum Beispiel betone: „Ich habe das gesagt!“, dann wird erlebbar: „… und nicht jemand anderes“.

3) Die Differenzierung von Hauptgedanke und Einschub

Gegenüber der Eindimensionalität des Sprechens in einer Vorher-Nachher-Linie, erzeugen sprachliche Einschübe eine dreidimensionale, plastische Sprachhandlung. Ein sprachlicher Einschub ist dabei nicht deckungsgleich mit einem grammatikalischen Einschub sein. Um den sprachlichen Einschub zu identifizieren, klammere ich jene Satzteile und Worte aus, die für die unmittelbare Information überflüssig sind, ohne den Satz damit zu verstümmeln, das heißt der Hauptgedanke muss als ein grammatikalisch korrekter Satz übrig bleiben.
Die Einschübe werden stimmlich gestaltend vom Hauptgedanken differenziert.
Vor und nach jedem Einschub setzt der Sprecher eine Zäsur und die Stimme wechselt den Modus. Überraschenderweise kennt unsere Stimme nur 3 duale Paare für Modulation (höher – tiefer, schneller – langsamer, lauter – leiser). Dennoch kann aus ihnen (zusammen mit den Zäsuren) eine ganze Welt verbal für andere erlebbar gemacht werden!

Die unsichtbare Geste im Vortrag

Das Unsichtbare bzw. sogar Unhörbare im Vortrag ist das Erleben des Textes als eine Handlung, der der Vortragende innerlich folgt. Es ist das Sprechen aus den Impulsen der Handlungseinheiten. Diese Dramaturgie der Handlung selbst wird nie als solche ausgesprochen, nicht als Struktur sicht- oder hörbar. Wohl aber findet sie ihren Ausdruck in der Inszenierung der Rede.

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Präsenz Führung + Pferdetraining Salespage
Präsenz- und Führungstraining, Schauspiel und Regie

Wunderschöner Kurs in Zusammenarbeit mit der HfS Ernst Busch Berlin

August 18, 2020

5 Schauspielschüler aus drei Jahrgängen waren vom 30.07. – 02.08.2020 bei uns, um mit unseren Pferden eine besondere Art der Sensibilisierung für Darsteller kennenzulernen. Es war eine Freude mit körperlich und mental so gut ausgebildeten und hochmotivierten Schülern zu arbeiten, die mit enormer Neugier und Offenheit auf diese für sie neue Art des Trainings eingingen. Die Fortschritte bis zum 4. Tag waren daher auch für alle beglückend und ein weiterer (Fortsetzung-)Kurs für nächstes Jahr ist angedacht.

 

Ein Artikel über den Kurs ist hier ( Passauer Neue Presse ) erscheinen.

 

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