April 15, 2022
Die Figur Nastja aus Maxim Gorkis „Nachtasyl“
In der schauspielerischen Arbeit bewegen wir uns wie ein Krebs rückwärts. Wir gehen vom vorliegenden Rollen-Text zurück, dahin zurück, wo er entsteht. Wir wollen dahin zurück gehen, wo die Notwendigkeit für diese Äußerung (in einer Person, einer Figur) entstand.
Vom Text zur Handlung
Zeitlich betrachtet ist der Text das erste Momentum vor der Arbeit des Schauspielers, er bildet unsere Ausgangssituation, wenn wir mit der Arbeit beginnen.
Aber einen Text kann man nicht spielen. Er läßt sich sagen, betonen, intonieren … spielen wird man immer eine Handlung. Sie ist das Material des Spielvorgangs.
Für den Schauspieler bildet der erste Schritt vom Text zum Spiel also dessen Verwandlung in eine Spielpartitur. Das ist sein erster und entscheidender Arbeitsschritt, denn damit wird der Bereich des Spielbaren eröffnet.
So wie ein Sänger Noten (oder Töne) braucht, um einen Text zu singen, so braucht ein Schauspieler die Handlung, die sich (unter anderem) in Worte und Sätze ausdrückt. Die Deutung eines Textes als Abfolge von Aktionen und das Verständnis von Sätzen als Sprechhandlungen ist der erste Rückwärtsschritt dahin, wo dieser Text ursprünglich entsteht.
Handlung: inneres Erleben und Verkörperung
Die Handlung selbst ist ein Januskopf. Sie hat als „Vorderseite“ den Ausdruck (die „Verkörperung“), als „Rückseite“ den Eindruck (das „innere Erleben“). Obwohl beides – wie bei einer Münze – untrennbar voneinander ist, so gibt es doch eine Gewichtung zugunsten des inneren Erlebens. Dieses ist der Grund und der Anlass für den Ausdruck. Daher behauptet Konstantin Stanislawski, dass wir im Schauspiel am Unsichtbaren und Unhörbaren arbeiten. Wir arbeiten an der Quelle des Ausdrucks.
Das innere Erleben, das seine Verkörperung (im Idealfall „von selbst“) hervorbringt, entfaltet sich in verschiedenen Aspekten: Charakter (Eigenschaften), Bewertung der Situation, Grundeinstellung , Motivation, Absicht, „innerer Film“ (eine Art „Bewusstseinsstrom“ à la Husserl, verwandt mit dem „Subtext“ bei Stanislawski).
Die Absicht
Unter diesen Aspekten des inneren Erlebens, die man auch als Elemente des Erlebens mit je eigenem Schwerpunkt verstehen kann, ist die Absicht das fruchtbarste Arbeitsmittel. Sie ist es, welche die Handlung auf dem Zeitstrahl des Geschehens nach vorne hin bewegt. Generell betrachtet entsteht eine Absicht aus der Kollision zwischen der Bewertung der Situation und der Grundeinstellung der Figur, ihre Eigenart wiederum wird von deren Charakter bestimmt.
Indem für die handelnde Person die bestehende Situation (in ihrer subjektiven Auffassung) nicht mit ihrer Sicht auf die Welt und auf sie selbst übereinstimmt, entwickelt diese eine Absicht. Diese ist der Versuch, die Situation dahingehend zu verändern, dass sie als „ideal“ empfunden werden kann.
Man könnte es auch so formulieren: Absicht ist das Wozu einer Handlung, sie verweist nach vorn auf ein Ziel (während die Motivation ihr Warum markiert und daher rückwärts eine Ursache kennzeichnet).
Da jedoch die Handlung sich nach vorne hin bewegt und entfaltet, betont Stanislawski die Vorrangstellung der Absicht der Handlung in der schauspielerischen Arbeit: Die Absicht der Figur ist die Aufgabe des Darstellers.
Verhältnis von Eindruck und Ausdruck in der Handlung
So wie die Absicht eine Vorrangstellung hat unter den verschiedenen Aspekten des inneren Erlebens der Handlung, so hat auch dieses innere Erleben selbst ein absolutes Übergewicht in der Arbeit gegenüber der Verkörperung. Denn der Ausdruck der Handlung soll als „Spitze eines Eisberges“ fungieren, und so, wie jeder echte Eisberg nur zu einem kleinen Teil über dem Meeresspiegel sichtbar ist und sich zum größten Teil unter der Wasseroberfläche befindet, so ist auch der Ausdruck oder die Verkörperung nur echt, lebendig und faszinierend, wenn ihre Quelle sie im Maß übertrifft und im Inneren der handelnden Person in diesem Übermaß geschieht.
Das Verhältnis zwischen Eindruck und Ausdruck in der Darstellung des Schauspielers zeichnet sich also dadurch aus, dass ersteres nur zu einem Teil in seine explizite Verkörperung übergeht. Der weitaus größere Teil der Handlung liegt unsichtbar und unhörbar im Bereich des Erlebens. Ja, man könnte so weit gehen, zu behaupten, dass unter günstigsten Bedingungen (Arbeitssituation, Begabung) der Ausdruck gar keiner eigenen Arbeit bedarf, dass er „von selbst“ entsteht, wenn zuvor das innere Erleben kraftvoll und stimmig aufgebaut wurde.
Methode der physischen Aktion
In der Arbeit am inneren Erleben der Handlung gibt es jedoch eine spezielle Vorgehensweise (der sich vor allem Meyerhold, ein Schüler Stansilawskis, bedient hat): die Methode der physischen Aktionen.
Wenn Eindruck und Ausdruck wie zwei Seiten einer Münze untrennbar miteinander verknüpft sind, dann ist nicht nur der Weg vom Erleben zur Verkörperung, sondern auch der umgekehrte von der Verkörperung zum Erleben möglich. In diesem Fall arbeiten wir eben doch direkt am Ausdruck, nicht jedoch, um diesen selbst zu fixieren, sondern nur, um mittels körperlicher Aktionen das innere Erleben zu wecken. Ist es gelungen, dann bahnt dieses Erleben sich selbst den Weg in seine Verkörperung.
Ausdruck und die „unsichtbare Geste“
Die Verkörperung der Handlung selbst ist non-verbal (Mimik, Gestik, Bewegung) und/oder verbal. Als verbale Handlung deckt sie sich inhaltlich mit dem Text, vom dem der sich rückwärts bewegende Arbeitsvorgang ausging. Hier schließt sich also der Kreis. Doch die „Rückkehr“ zum Text, oder besser gesagt: das Wieder-Ankommen beim Text hat diesen verwandelt. Er ist jetzt verbale Aktion, verbaler Ausdruck einer Handlung. Und ebenso wie die nonverbale erhält auch die sprachliche Verkörperung ihre Überzeugungskraft und Lebendigkeit von der Präsenz der handelnden Person. Das heißt von deren Befähigung, das innere Erleben in sich so groß und stimmig aufzubauen, dass es den Ausdruck um ein Vielfaches übersteigt. Es ist die Kraft zur „unsichtbaren Geste“, welche die Präsenz des Handelnden ausmacht.
Vorträge (von Nicht-Schauspielern) mit Schauspieltechnik vorbereiten
So wie in den Schauspielproben, arbeite ich im Vortragstraining in erster Linie an der Handlung, die sich mittels der Worte ausdrückt.
Gemeinsamer Ursprung und das Problem der Authentizität
Das Vortragen und das Schauspielen haben einen gemeinsamen Ursprung: die Dionysien (Festspiele im antiken Griechenland, Sprechgesang-Chöre).
Aus diesen haben sich die griech. Tragödien und Komödien und in Folge das Theater, bis dahin wie wir es heute kennen, entwickelt. Insbesondere Ende 19./20. Jahrhundert begann in der Theatertheorie und -Methodik eine immer mutigere und (de facto) lebensnotwendige Auseinandersetzung mit der Frage nach der Authentizität und ihren technischen Bedingungen: Wie wird aus dem „Vortragen“ eines vorausliegenden Textes ein lebendiger Sprechakt?
Die Ergebnisse dieser Überlegungen und die daraus resultierenden Techniken sind unabhängig von der Fiktionalität des Sprechers (Figur) und seiner Situation!
Einfluß der Sprechakttheorie
Insbesondere die philosophischen Ansätze von John Austin („How To Do Things With Words“) und John Searle in den 60-er/70-er Jahren erwiesen sich als ungemein befruchtend.
Für die Schauspieltheorie übernahm man den Gedanken, dass Sprechen Handeln, und das „Informieren“ dabei nur eine von über 25 möglichen Handlungen ist.
Dieser Ansatz liegt der Schauspieltechnik zugrunde, die ich auch für das Vortragstraining einsetze. Damit versteht sich mein Training nicht als Sammlung von Tipps und Tricks mit dem Ziel einer Optimierung, sondern als eine grundlegende Neuorientierung in der Frage des Wesens, der Vorbereitung und der Darbietung von Vorträgen.
Story-Acting
Das inzwischen etablierte „Storytelling“ als Methode der Gestaltung von Vorträgen (und ebenso von Posts in den Social Media) wird in meiner Vorgehensweise zu einem „Story-Doing“ bzw. einem „Story-Acting“.
Wir „tragen“ – im Moment des Vortrags – nichts Fertiges vor, wir „erzählen“ keine zuvor bestehende Geschichte, sondern handeln die (natürlich schriftlich vorbereiteten Inhalte) Jetzt und Hier, vor den Augen und Ohren der Audience. Damit einher geschieht nicht nur eine Aktualisierung des Geschehens, sondern auch eine „Ent-Intellektualisierung“, indem das Was-der-Vortragende-(mit den Inhalten)-tut, in den Vordergrund rückt.
Erstellen einer Handlungspartitur
Ist der Vortragstext fertig formuliert und in einer klaren äußeren Gliederung thematisch strukturiert, beginnt der schauspieltechnische Teil der Vorbereitung: die innere Dramaturgie der Sprechhandlungen. Dafür gliedern wir den Text entsprechend seiner Grundabsicht in einzelne Handlungseinheiten, die mittels sogenannter „Schwellen“ voneinander getrennt werden. Manche Schauspiellehrer verwenden hier den Begriff „Brüche“. Das erscheint mir irreführend, weil im Ende jeder Handlungseinheit ein „Impuls“ wirkt, der den Übergang zur nächsten Handlungseinheit ernötigt. Insofern ist hier eher von einem (unterschiedlich harten) „Übergang“ die Rede als von einem (zusammenhangslosen) „Bruch“. Das Ziel dieser Dramaturgie ist eine Art „perpetuum mobile„, in welchem eine Handlungseinheit in ihrem Verlauf die nächste organisch hervorbringt, im Idealfall ohne akutes Managen seitens des Sprechenden.
Die Inszenierung
Der Handlungsablauf der sprachlichen Aktionen wird schließlich wird „in Szene gesetzt. Dabei geht es im Wesentlichen um den Ausdruck der Sprechhandlungen und um die Wirkung auf ein Publikum, so dass dieses mit den Handlungen des Sprechers in Resonanz geht. D.h.: sie erkennt und versteht, sie (emotional) erlebt und durch sie bewegt wird.
Die Inszenierung ist ein äußerst komplexes Thema und kann hier nur in einigen Bestimmungen, die sprachlichen Aktionen betreffend, angerissen werden.
1) Zäsuren
Die erste, und eine der wichtigsten Möglichkeiten Sprechhandlungen zu inszenieren, sind paradoxerweise die „Pausen“. Wir sprechen jedoch richtiger von „Zäsuren“, weil in ihnen nicht nichts, sondern die Veränderungen, die Umschwünge geschehen.
Das erste Beispiel für Zäsuren sind die Schwellen zwischen zwei Handlungseinheiten. Ein weiterer Einsatz von Zäsuren findet sich innerhalb der Handlungseinheiten, um ihren Verlauf zu akzentuieren und um verschiedene Handlungsebenen zu ermöglichen. Zäsuren haben keine definierte objektive Länge, ihre Längen sind relativ zueinander (eine Zäsur ist also zum Beispiel doppelt so lang wie eine andere), analog zur Länge von Noten.
2) Betonungen
Betonungen sind negative Hervorhebungen. Sie lassen das unausgesprochen mit-anwesend sein, was durch die Betonung verneint wird. Wenn ich also zum Beispiel betone: „Ich habe das gesagt!“, dann wird erlebbar: „… und nicht jemand anderes“.
3) Die Differenzierung von Hauptgedanke und Einschub
Gegenüber der Eindimensionalität des Sprechens in einer Vorher-Nachher-Linie, erzeugen sprachliche Einschübe eine dreidimensionale, plastische Sprachhandlung. Ein sprachlicher Einschub ist dabei nicht deckungsgleich mit einem grammatikalischen Einschub sein. Um den sprachlichen Einschub zu identifizieren, klammere ich jene Satzteile und Worte aus, die für die unmittelbare Information überflüssig sind, ohne den Satz damit zu verstümmeln, das heißt der Hauptgedanke muss als ein grammatikalisch korrekter Satz übrig bleiben.
Die Einschübe werden stimmlich gestaltend vom Hauptgedanken differenziert.
Vor und nach jedem Einschub setzt der Sprecher eine Zäsur und die Stimme wechselt den Modus. Überraschenderweise kennt unsere Stimme nur 3 duale Paare für Modulation (höher – tiefer, schneller – langsamer, lauter – leiser). Dennoch kann aus ihnen (zusammen mit den Zäsuren) eine ganze Welt verbal für andere erlebbar gemacht werden!
Die unsichtbare Geste im Vortrag
Das Unsichtbare bzw. sogar Unhörbare im Vortrag ist das Erleben des Textes als eine Handlung, der der Vortragende innerlich folgt. Es ist das Sprechen aus den Impulsen der Handlungseinheiten. Diese Dramaturgie der Handlung selbst wird nie als solche ausgesprochen, nicht als Struktur sicht- oder hörbar. Wohl aber findet sie ihren Ausdruck in der Inszenierung der Rede.