Was ist Präsenz?

Wie kommt es, dass Präsenz – die persönliche Präsenz eines Menschen – überhaupt zum Thema, zu einem Problem, zumindest zu einer „Aufgabe“ geworden ist? Ist diese nicht etwas Naturgegebenes? Sind wir denn nicht alle – auf je verschiedene, persönliche Weise – „präsent“? Oder steht die Frage nach der Präsenz im Kontext von „Selbstoptiminierung“, ein „softskill“ das uns zu besseren Menschen, besseren Führungskräften, das uns glücklicher und erfolgreicher macht?

Die Geschichte einer Problemwerdung (Phylogenese)

Es gibt in der Tradition des europäischen, des „westlichen“ Denkens, das sich global so erfolgreich durchgesetzt hat, eine Grundauffassung, durch welche die Präsenz in Folge zu einem Problem geworden ist. Ja, zu einer – logisch betrachtet – eigentlich unlösbaren Aufgabe. Dies ist die Dualität von Körper und Geist in der Deutung des Menschseins.

Aristoteles, Descartes und die Aufklärung

Die Anfänge reichen weit zurück. Schon Aristoteles definiert den Menschen als „Zoon logon echon“ (lateinisch: animal rationale) und begründet damit unsere Doppelnatur als tierisches (körperliches) und zugleich geistiges (vernünftiges, bewusstes, sprachliches) Wesen.

Im 17. Jahrhundert findet diese inzwischen etablierte Auffassung bei René Descartes einen weiteren Deutungshöhepunkt. In seinen „Meditationes de prima philosophia“ (berühmt geworden durch die daraus extrahierte Kurzformulierung „cogito ergo sum“) findet die Dualität des Menschen nicht nur die Form „Leib und Seele“. Descartes wertet darüberhinaus den Geist mit philosophischer Argumentation so deutlich gegenüber dem Körper auf, dass ihre Verbindung prinzipiell problematisch wird. Eigentlich sind wir Geist (res cogitans), der Körper (res extensa) ist nur eine Art Maschine, die unser Gehirn steuert (wie ein Zugführer die Lokomotive). Wie das logisch möglich sein soll, dass diese beiden eigentlich gegensätzliche „Dinge“ überhaupt noch einen Bezug zueinander haben, das gelingt nur noch durch die Hypothese oder Fiktion, es gäbe im Gehirn eine „Zirbeldrüse“, in der diese „Dinge“ miteinander wechselwirken. Der Zusammenhang von Körper und Geist ist jetzt eine bloße Annahme gewordenen.

Ein weiterer Höhepunkt des Auseinanderdriftens von Körper und Geist, einhergehend mit der weiteren Abwertung des Körperlichen, ist dann die Aufklärung. Im 18. Jahrhundert verfestigt sich insbesondere mit Imanuel Kant nicht nur der Dualismus und die Vorrangstellung des Geistigen in der Selbstauffassung des Menschen. Das „Geistige“ wird darüber hinaus in der Auffassung als „Verstand“ und „Vernunft“ in seiner Bedeutung weiter verengt und damit dem Körperlichen noch deutlicher entfremdet.

Das moderne Selbstverständnis: Sein und Haben

Es gäbe hier noch viele weitere Zwischenetappen zu nennen auf dem Weg zu unserem heutigen „normalen“, das heißt unhinterfragten Selbstverständnis. Ich spare sie mir, ebenso wie die Gegenbewegungen, die das Körperliche aufzuwerten oder gar eine Einheit zu denken versuchten. Gerade letztere blieben ein Kuriosum, ohne jeden entscheidenden Effekt.

Bei aller Kritik an der Vorrangstellung der Vernunft/des Verstandes in der Definition des Menschen (insbesondere in der Postmoderne), ja, bei aller Absurdität dieser Definition angesichts von Weltkriegen und Schlimmerem – der Dualismus ist tiefsitzender Kern unseres Selbstbildnisses (gefestigt zudem durch den Einfluss der Religion, des Christentums, um genau zu sein). Und das Körperliche wurde aus dem Wesen des Menschen verbannt. Wir sind Geist/Verstand/Vernunft und haben einen Körper.

Die individuelle Ebene der Problemwerdung (Ontogenese)

Nicht nur die einflussreichste westliche Kultur (aufgrund ihrer durch Globalisierung erworbenen Vormachtstellung), auch das Individuum zeigt im Laufe seiner Entwicklung vom Säugling zum Erwachsenen eine sich parabelartig vom Körperlichen entfernende Kurve.

An der Schauspielschule, an der ich arbeite, nennen wir unsere Studierenden daher manchmal „Schul-Überlebende“. Sie wurden – auch das oft eher schlecht – auf analytisches (aber nicht kritisches) Denken getrimmt. Aber das Gedachte hat oft wenig Kontakt zu Empfindungen und kann sich nur schwer körperlich ausdrücken. Wie in Grotowskis „via negativa“ besteht dann ein großer Teil meiner Aufgabe als Schauspieldozentin zunächst auch darin, die Hindernisse für einen lebendigen Ausdruck beiseite zu schaffen, um dann Techniken und Fertigkeiten aufbauen zu können …

Aber dieses Auseinanderdriften und nicht mehr Zueinanderfinden von Innerlichkeit und Ausdruck wird nicht erst durch die Gesellschaft (und ihrem „Handlanger“ Schule) grundgelegt. Es scheint tatsächlich auch natürlicherweise zu unserer individuellen Entwicklung von Geburt an zu gehören. Insbesondere die Sprache hat hier wesentlichen Anteil (oder soll ich sagen: Schuld?).

Wenn bei Schmerzen der Säugling noch schreit (und sein ganzer Köper geht dabei stimmig mit: das Gesicht verzerrt, der Körper gekrümmt, die Fäustchen geballt), so beginnt das Kleinkind schon – körperlich weniger expressiv – zu artikulieren: „Aua!“. Der Jugendliche wird vielleicht nur noch stimmlich und mimisch etwas „färben“, wenn er sagt: „Ich hab Bauchweh“, während es Erwachsene gibt, die (unter Schmerzen) ganz sachlich erklären: „Ich leide unter einer Kolitis.“

Ist das falsch? Natürlich nicht. Wie könnte ein ontogenetisches Gesetz, eine Entwicklungnotwendigkeit „falsch“ sein. Aber sie ist problematisch für das Zustandekommen von „Präsenz“, insofern als wir uns von der Unmittelbarkeit des körperlichen Ausdrucks immer weiter entfernen. Je konformer wir dann auch noch gesellschaftlich eingebunden sind, desto inadäquater erscheint es, sich auszudrücken (in Wirtschaftskreisen wohl daher mehr als in Künstlerkreisen).

Präsenz als Phänomen betrachtet

Anstatt hier gleich eine Definition zu versuchen, möchte ich lieber beschreiben, wie wir Präsenz wahrnehmen, und zwar sowohl wie wir die Präsenz anderer erleben, als auch, wie wir unsere eigene Präsenz wahrnehmen.

Die Präsenz eines anderen wahrnehmen

Es gibt sie, diese Auftritte eines Menschen, die uns sofort aufmerken lassen und vielleicht sogar in ihren Bann ziehen. Dabei habe ich keineswegs eine spektakuläre Aktion desjenigen vor Augen! Es ist ein – noch unsprachliches, körperliches – Erscheinen, das trotzdem maximale Sichtbarkeit, weil Anwesenheit in der Situation, erzeugt. Wir schauen nicht nur hin, wir erwarten etwas, erwarten ein Sichentwickeln der Handlung dieser Person, eine weitere Entfaltung der nunmehr durch sie bestimmten Situation.

Der Kontakt ist bereits geknüpft, sie hat uns „angesprochen“, ohne ein Wort zu verlieren. Und aufgrund dieses Kontakts folgen wir ihr – zunächst nur mit unserer Aufmerksamkeit, im weiteren Verlauf der Beziehung dann vielleicht auch emotional. Und – wer weiß – schließlich bewegt sie uns sogar zu einem (Um-)Denken, einer Handlung, einer Haltungsänderung …

Mit anderen Worten: wir erleben die Präsenz eines anderen als Kontakt und als eine Führung, die Wirkung erzeugt. Daran ist bemerkenswert, dass dies recht schnell eintritt und eine wesentliche körperliche, aber verstandesmäßig nicht ganz fassbare Wirkung ist, eine „Aus-Strahlung“ noch vor oder zusätzlich zu sprachlichen Äußerungen. Im sprachlichen Kontext wird dann auch etwas Ähnliches erlebt: ein Sich-Äußern von etwas, das die eigentlichen Inhalte oder Informationen übersteigt oder vielmehr durchdringt.

Ein Inneres der Person kommt nach Außen, drückt sich – körperlich (und sprachlich) – aus und geht aktiv in Kontakt mit uns, ein Kontakt, dem wir folgen, den wir intuitiv suchen und erhalten wollen. Oft empfinden wir dabei Sympathie, das ist jedoch keineswegs ein Muss. Wir werden zwar auch auf der Gefühlsebene getroffen, jedoch nicht unbedingt ganz klar in Richtung positiver Zustimmung. Manchmal ist es „nur“ ein deutliches Aufmerken, verbunden mit Neugier, Achtung, Interesse.

Das Erleben der eigenen Präsenz

Unser eigenes Präsentsein nehmen wir gar nicht als solches explizit wahr. Wir sind dann ganz „bei der Sache“, die wir tun, ganz bei dem anderen Wesen, mit dem wir in Kontakt sind. Es scheint, als ob zur eigenen Präsenz eine besondere Art von Selbstvergessenheit gehört – ähnlich der eines spielenden Kindes. Es fehlt dann diese Meta-Ebene, die uns sonst immer zugleich zum Beobachter und Bewertenden unserer Handlungen macht.

Wenn wir präsent sind, dann drehen wir diese Extra-Schleife nicht, spalten uns nicht auf in Handelnde und Beobachterin. Es findet eine – wie ich finde – unglaublich erlösende Identifikation statt: ich gehe ganz auf in meinem Tun, bin vollkommen und als ganze Person im Erlebten, im Gegenüber. Ja, es kann sich sogar anfühlen, als ob ich – ungeachtet der von außen beobachtbaren Aktivität – passiv wäre: kein Erlebnis von Mühe, von Wille, der sich durchsetzt, ja, kaum von einem Unterschied zwischen mir und meinem Handeln, der Sache selbst oder meinem Partner (wenn es einen solchen gibt).

Für diesen eigenartigen Zustand existiert das treffende Wort „Flow“. Wir erleben ein müheloses Fließen, in dem jede unserer Aktionen sofort Wirkung erzielt, diese uns wiederum bestimmt und so weiter – eine Art „Perpetuum mobile“ ohne Reibungsverluste, ohne Widerstände. Vermutlich sollten wir dieses Erleben mit dem Begriff „Glück“ fassen. In seiner vollkommensten Ausprägung sind Flow-Erleben und Glücklichsein so sehr verbunden mit dem Fehlen der Meta-Ebene, dass wir sie erst im Nachhinein als solche identifizieren. In der Rückschau geben wir dem Geschehen diese Titel, im Moment selbst handeln und erleben und sind wir – sprachlos und ohne Bewertung.

Präsenz – ein verlorenes Paradies?

Wenn ich über Präsenz spreche und sogar erzähle, dass ich Trainings für Präsenz gebe, begegnet mir oft der Einwand: das ist eine Gabe, man hat es oder hat es nicht. Jedes Training könnte dann nur eine Unterweisung in geschicktes Faken sein: Wie hat man sich zu geben, um präsent zu scheinen/zu wirken? Damit in Verbindung steht meist, dass man Präsenz als „Aura“ bezeichnet (und endgültig mystifiziert).

Und auch ich selbst: habe ich nicht gerade dargelegt, wie weit wir uns in der persönlichen Entwicklung vom Kleinkind zum Erwachsenen und in der historischen Geschichte (die in vielen Punkten ein Auseinandertreten von Körper und Geist ist, mit der Wandlung des Geistes hin zu Verstand, ineins mit dessen Vorrangstellung ist)? Begegnet uns Präsenz denn nicht in erster Linie bei Kindern und bei Künstlern, die auf eine gewisse Art auch selbst spielen (und deren „Begabung“ vielleicht diese „Aura“ mitbringt)? Ja, das habe ich, und trotzdem weiß ich, dass Präsentsein ein Potential ist, dass jeden Menschen ausmacht. Und wenn das Paradies hinter uns verschlossen ist und wir auch nicht einfach „umkehren“ können, dann müssen wir wohl – wie H. v. Kleist in „Über das Marionettentheater“ schreibt – die Reise um die Welt machen und sehen, ob wir nicht von hinten wieder ins Paradies der Einheit von Körper und Geist gelangen können.

Oder anders, weniger metaphorisch, ausgedrückt: wenn etwas zu unserem Wesen als Menschen gehört, wenn es unser Potential ist, dann ist dies nicht verloren. Es ist nur (noch) nicht Realität und kann es jederzeit werden, wenn wir unsere Absicht, unseren Wunsch – unsere Energie – darauf richten, es zu verwirklichen. Es lässt sich nichts trainieren, was ganz und gar nicht da ist. Ein Training ist kein Zauber, noch weniger aber kann und darf Training etwas sein, was nur andere glauben lässt, dass etwas da sei. Im Schauspiel sage ich: „Man kann keine Leiche so schminken, dass sie lebendig scheint.“ Was nicht ist, kann auch nicht erscheinen. Was sein kann, kann aber wirklich werden.

Das Training der Präsenz geschieht in Übungen, in denen die Teilnehmerin körperlich-geistig agiert. Absichten, Gedanken, Gefühle drücken sich nicht erst in Gesten, sondern in Spannungszuständen des Körpers aus. Mit einem Co-Trainer, der dies perfekt wahrzunehmen imstande ist und seine Wahrnehmung durch eine Reaktion bezeugt, wächst das Vertrauen und die Selbstverständlichkeit der Einheit unseres Körpers und unseres „Inneren“. Ein solcher Co-Trainer ist das Pferd. Dazu kannst du andere Blogartikel von mir lesen, z.B. HIER.

Vermutlich wäre es sogar richtiger, wenn ich mich als Co-Trainer und das Pferd als den eigentlichen Trainer bezeichnen würde. Das ist keine Bescheidenheit, das ist die Realität in den Trainings, wie ich sie erlebe. Und trainiert wird hier kein äußerer Anschein – davon ließe sich kein Fluchttier wie das Pferd irreführen. Trainiert wird eine zutiefst menschliche Fähigkeit, eine Gabe, meinetwegen, die uns aber alle auszeichnet und von der wir uns lediglich weit oder sehr weit entfernt haben: die Fähigkeit, im Kontakt mit der Umgebung, mit anderen Wesen, uns selbst so auszudrücken, dass wir diese damit bestimmen und auch selbst bestimmt werden. Es ist ein „Spiel“, das zwischen Agieren und Reagieren oszilliert. Es ist zugleich das Wesen von Führen, das sich immer am Geführten orientiert, ohne sich selbst dabei zu verlieren.

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  1. Seeehr spannend, liebe Elma!

    Ich hab mich an etwas erinnert, aus meinem Griechisch-Studium (lange her). Bei Homer gibt es das Wort "selbst" (autos). Und das bezieht sich im Leben auf den ganzen Menschen, aber wenn im Epos einer stirbt, merkt man, dass es sich BESONDERS auf den Körper bezieht. Dann heißt es nämlich so ungefähr: seine Seele ging in die Unterwelt, ihn selbst aber fraßen die Hunde.

    Heißt also, die Menschen in Ilias-Odyssee-Zeiten SIND ihr Körper. Und HABEN eine Seele.

    Entschuldige den etwas martislischen Inhalt des Kommentars. Aber diese Erkenntnis nochmal im Zusammenhang mit Präsez zu denken hat mich heute morgen sehr erfreut 😄

    Liebe Grüße
    Paula

    1. Dieser Hinweis von dir ist fantastisch! Bisher dachte ich, dass nur irgendwelche Sekten und schräge Einzelgänger der Doktrin Seele/Geist/Verstand-Sein und Körper-Haben zuwiderdachten. Aber nun Homer …! Ich frage aber nach wie vor, ob es auch ein relevantes Denken der Einheit gibt (die keine Summe ist)?

  2. Ein sehr lesenswerter Artikel! Danke für die genaue und tiefgreifende Ausführung. Sehr spannend und in vielen Punkten genau so in wunderbare Worte gefasst, wie ich es auch sehe und selber erlebe, wenn ich auf der Bühne präsent bin.

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