Haben Vorträge ein Geschlecht?

Eine seltsame Frage? Nein, nur eine drastische Formulierung!

Auf diese Frage nach dem Geschlecht von Vorträgen bin ich gekommen, nachdem ich ein Interview mit einem Mitarbeiter der Allianz-Versicherung geführt hatte. Auf meine Frage, was er für ein persönliches Ziel mit seinen Vorträgen verfolge, bekam ich zur Antwort: „Deliver the message!“ Ich war baff! Vor dem Vorstand, vor den Aktionären sprechen – und nur „Abliefern“ wollen?

Ich bin keine Anhängerin von geschlechtsspezifischen Attributen, dennoch gibt es – gesellschaftlich etabliert – „typisch“ weibliche und männliche Zuweisungen von Eigenschaften. (Im übrigen, selbst wenn wir das anerkennen, so ist auch klar dass wir alle tatsächlich beide Arten von Eigenschaften in uns tragen!) 

„Das“ Vortragen ist männlich …

Das Vortragen, wie es sich in der Regel abspielt, scheint ein sehr männlich bestimmtes Ereignis zu sein. Und zwar genau dadurch, dass etwas „Fertiges“ dem Publikum vorgelegt wird. Maximale Kontrolle wird dadurch suggeriert, der Vortragende ist wissender, „weiter“ als seine Zuhörer und gibt ihnen etwas, das sie noch nicht haben: Informationen, Inhalte. Er selbst ist sehr sachlich in seiner Rolle, so sehr, dass er – als Bote und Überbringer – persönlich nahezu hinter seinen Inhalten verschwindet. Es geht ihm im Wesentlichen nur darum: „deliver the message“! 

Diese typische Vortragshaltung nehmen oft Vortragende, gleich welchen Geschlechts, an – in der unbewußten Annahme, dass dies Vortragen an sich sei. 

… und Frauen tun „es“ auch

Dazu würde auch die Bemerkung einer meiner Kursteilnehmerinnen passen, dass ihr kein „role model“ für ein „weibliches“ Vortragen einfällt. Ich denke, dass es das auch kaum gibt! Frauen tragen nach dem Prinzip des männlich definierten Vortragens vor (und machen das natürlich auch sehr gut). Um den Preis jedoch, dass sie „Spielregeln“ anerkennen, die von nur einer Art von Protagonisten geprägt sind, den männlichen.

Wenn manche Frauen (und durchaus auch Männer!) sich mit dieser Form jedoch unwohl fühlen, dann entstehen so herrliche (aber auch etwas verzweifelt anmutende) Äußerungen, wie: „Ganz ehrlich? Am liebsten würde ich statt vortragen singen. Oder Kabarett machen“ (so diese Kursteilnehmerin).

Vom Vortrag zur Darbietung

Mein Ansatz bei Vorträgen ist ein anderer. Und er bietet eine Möglichkeit, genau jene Formen des Vortragens zu verlassen, die in Wahrheit nur etablierte männlich geprägte Eigenschaften als Wesensbestimmungen von Vortragen überhaupt gesetzt haben.

Ich gehe von einer neuen Annahme aus: in Vorträgen handeln wir sprachlich. Vortragstexte lassen sich als eine Abfolge von Handlungen inszenieren und diese wiederum … werden dann verkörpert. Ein Vortrag wird zu einer Darbietung (hier ließen sich vermutlich schon begrifflich „weibliche“ Tendenzen entdecken). 

In-Bewegung-Bringen des Textes

Wenn ich vor dem Publikum handle, dann geschehen mehrere Veränderungen in der Grundform des Ganzen: 

Statt eines Überbringens fertiger Inhalte passiert ein hier und jetzt vor dem Publikum geschehendes Denken (ungeachtet seines Vorbereitetseins! Das ist der Akt der Inszenierung!). 

Das Ganze wirkt nicht mehr wie in Marmor gemeißelt, sondern wie ein lebendiger Akt der Selbstklärung und wie ein Dialog mit dem (natürlich stummen) Publikum. 

Der Kontakt mit sich und mit den Zuhörern, den würde ich als „typisch weiblich“ bezeichnen, und er bildet den Kern meiner Methode. Einem stummen Publikum kann ich Gedanken, Haltungen etc. unterstellen (im besten Sinn des Wortes) und – gewissermaßen ad hoc – darauf Bezug nehmen, ich kann etwas von mir Gesagtes selbst anzweifeln und mich dann doch vergewissern, dass es richtig ist, ich kann einen Umweg gehen und bekennen, dass dies dennoch zielführend schien, ich kann mir eine Frage stellen und versuchen, sie mir zu beantworten etc.

Dieses In-Bewegung-Bringen eines Textes, indem ich ihn als Handlungsabfolge inszeniere, macht Vortragen zu einem Darbieten und scheint mir (egal, ob für Frauen oder Männer) insofern „weiblich“ zu sein, als es fließend, anti-dominant, anti-autoritär, anti-pädagogisch, „verletzlich“ (auf eine gewisse Weise) erlebt wird – ohne, dass der Eindruck von Kompetenz oder Führung verloren geht! Man muss nur den Mut haben, solche Attribute, wie „Kompetenz“, „Führung“ etc. jenseits von „Dominanz“ zu deuten. 

Vortragen mithilfe von Schauspieltechnik

Mein Wissen ist de facto nicht neu. Schon John Austin und John Searle haben in den 60er Jahren den Handlungsaspekt der Sprache herausgestellt (toller Titel von Austin: „How to do things with words“). Für den Bereich des Theaters waren diese Gedanken eine Offenbarung, und sie begannen die Experimente anzustoßen, wie man mit dem vorgegebenen Rollen-Text umgehen kann und soll.

Um es kürzer zu machen: eben dies ist meine Tätigkeit (ob für Schauspieler/Regisseure oder für Experten): Texte in Darbietungen zu verwandeln, indem sie nicht vorgetragen („abgeliefert“), sondern sprachlich gehandelt werden.

Dafür braucht es Kenntnisse von Handlungsführung und Verkörperung, es braucht einiges an Übung (ein wenig wie im Theater), aber es entsteht etwas, das – ohne die Konventionen zu pulverisieren und damit aus dem Rahmen zu fallen – diese unterläuft, subversiv aushebelt und den Weg frei macht für eine besondere Art des Redens vor Publikum.

Die Handlungspartitur

Stell dir vor, du gibst einer Sängerin einen Text und bittest sie, diesen zu singen. Was wird sie dir antworten?
Sie wird dir sagen, dass sie, um zu singen, Noten braucht. Sie braucht eine Partitur.

Wenn du vor dein Publikum trittst und ihm deine Inhalte nicht abliefern willst – auch nicht mit Effekten (vorbereitete Betonungen, Pausen, Änderungen der Stimme, deiner Mimik oder Gestik) – dann brauchst du einen Abfolge von Handlungen.

Völlig gleichgültig, ob abgelesen oder frei gesprochen, ein Vortrag ohne Handlungspartitur bleibt ein Überbringen von Informationen, kein Schmücken der Inhalte durch Variationen ändert daran etwas. Denn es handelt sich um eine Kategorie, die – ungeachtet dessen, wie du sie erfüllst (besser, schlechter …) – sie selbst bleibt: Lesen, oder in- bzw. auswendiges Sprechen (was soviel bedeutet wie sinngemäßes freies  oder satzgetreues Referieren).

In meinem Training wechsle mit dir die KategorieVom Vortragen von Inhalten zum Darbieten von Sprechhandlungen.  
Als Regisseurin erstellst du in der Inszenierung die innere Dramaturgie: deine Handlungspartitur. Als Darbietende verkörperst du sprachlich (und natürlich – ohne Festlegungen – begleitend: mimisch und gestisch) diese Handlungen.

Und was ist mit der Begabung?

Eine junge Frau mit bewegter Mimik und Gestik und strahlenden Augen spricht einen Text.
Caroline Bröker als Pozzo in S. Becketts „Warten auf Godot“, Regie: Elma Esrig

Warum muss, nein, warum sollte der Ausdruck eines Menschen, der einen Text darbietet, der 1949, vor 73 Jahren (!) von jemandem anderen verfasst worden ist („Warten auf Godot“ von Samuel Beckett), warum sollte dieser lebendiger, ergreifender und „echter“ wirken als dein sprachlicher, mimischer und gestischer Ausdruck in der Darbietung deiner eigenen Mission und Expertise? 

Ich bin davon überzeugt, dass schauspielerische Begabung allein darin besteht, fremde Gedanken und Gefühle, fiktive Figuren und Situationen zu erleben, als wären sie echt und real. Und deshalb kann dieses schauspielerisches Talent wegfallen, wenn deine eigene Persönlichkeit in einer realen Situation ihre Inhalte vor Publikum handelt – ohne, dass die Darbietung deswegen zu einem Vor-Tragen werden muss – zu einem Abliefern.

An der Verbesserung eines Ablieferns arbeite ich nicht. Wohl aber daran, dir den Weg zum Darbieten zu zeigen.

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